Kann man den Pflichtteil mindern, wenn kein Interesse an Kontakten bestand?

Pflichtteil mindern, wenn man sich einfach nicht sehen wollte?

OGH 6.9.2022, 2 Ob 116/22f – Pflichtteilsminderung bei bloßem Desinteresse

Wenn zwischen einem Pflichtteilsberechtigten und dem Verstorbenen nie oder lange Zeit kein Naheverhältnis bestand, kann der Verstorbene den Pflichtteil auf die Hälfte mindern. Eine Pflichtteilsminderung ist aber nicht möglich, wenn der Verstorbene verantwortlich für den fehlenden Kontakt war (§ 776 ABGB). Was aber, wenn beide Seiten nie Interesse an Kontakten gezeigt haben? Damit musste sich der OGH auseinandersetzen:

Sachverhalt – Was ist passiert?

Die Klägerin war die Enkelin der Verstorbenen. Der Vater der Klägerin war vorverstorben.

Im Rahmen eines Familienstreits etwa 10 Jahre vor dem Tod der Verstorbenen fühlte sich die Verstorbene gekränkt und enterbte die Klägerin. Nach diesem Streit gab es keinen Kontakt mehr zwischen der Verstorbenen und ihrer Enkelin, der Klägerin. Auch davor waren die beiden nur bei Familienfeiern zusammengetroffen und hatten kaum Kontakt. Persönliche Gespräche gab es nie.

Die Verstorbene bemühte sich nie um einen Kontakt mit der Klägerin. Genauso bemühte sich aber auch die Klägerin nie um Kontakt mit ihrer Großmutter, der Verstorbenen.

Die Verstorbene setzte ihre Tochter zu ihrer Alleinerbin ein. Ihre Enkelin, die Klägerin, sollte nichts bekommen.

Was behauptete die Klägerin?

Die Klägerin verlangte die Zahlung ihres ungekürzten Pflichtteils.

Sie habe nie einen Enterbungsgrund gesetzt und sei, nachdem ihr Vater vorverstorben sei, pflichtteilsberechtigt. Eine Minderung des Pflichtteils auf die Hälfte komme auch nicht in Frage: Denn zum einen habe es immer wieder Kontakte auf Familienfeiern gegeben. Und zum anderen sei die Verstorbene Schuld an den kaum vorhandenen Kontakten: Die Verstorbene habe nie Kontakt zu ihr gesucht und sie damit gemieden. Dass sie selbst auch keinen Kontakt gesucht habe, sei nicht von Bedeutung.

Und was entgegnete die beklagte Alleinerbin?

Die Beklagte gestand zu, dass keine Enterbungsgründe vorliegen. Eine Enterbung sei aber in eine Pflichtteilsminderung auf die Hälfte umzudeuten, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Und das sei hier der Fall:

Zwischen der Verstorbenen und der Klägerin bestand über circa 20 Jahre hinweg kein Naheverhältnis und kaum Kontakte (vgl OGH 14.12.2021, 2 Ob 83/21a). Die Verstorbene habe keinen Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben und habe die Verstorbene auch nicht gemieden: Sie habe sich bloß nicht für die Klägerin interessiert – genauso wie sich die Klägerin nicht für die Verstorbene interessiert habe.

Der OGH minderte den Pflichtteil!

Nach dem Gesetzestext ist eine Minderung nicht möglich, wenn „der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden“ hat (§ 776 Abs 2 ABGB).

Jemanden „meiden“ setzt aber voraus, dass man jemandem aus dem Weg geht oder sich von ihm fernhält: Das wäre beispielsweise der Fall gewesen, wenn die Verstorbene Kontaktaufnahmeversuche der Klägerin abgewehrt oder nicht auf solche Versuche reagiert hätte.

Die Verstorbene hat die Klägerin aber nicht gemieden. Sie hat sich bloß nicht für sie interessiert und sich nicht aktiv um Kontakte bemüht. Die Verstorbene war für die fehlenden Kontakte also nicht verantwortlich, sodass eine Minderung des Pflichtteils auf die Hälfte möglich war.

Was kann man daraus für Schlüsse ziehen?

Besteht zwischen einem Pflichtteilsberechtigten und dem (späteren) Verstorbenen über lange Zeit kein Kontakt, besteht die Möglichkeit zur Pflichtteilskürzung. Wenn die Verantwortung für den fehlenden Kontakt nicht eindeutig ist, kann ein strategisches Vorgehen helfen, die eigenen Ansprüche zu sichern.

Mehr zum Thema Enterben und Pflichtteilsminderung finden Sie hier.


Bild von Tom auf Pixabay

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